Keine Romantisierung, bitte
"Autonomie der Migration" im Streitgespräch
Martina Pech und Gregor Samsa vom
Arbeitsschwerpunkt "Arbeit, Migration,
Prekarisierung" haben sich mit Ade Alabi und
Sunny Omwenyeke von The Voice und der Karawane
für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen
zum Streitgespräch getroffen.
Martina Pech: Wir möchten mit einem
Auftaktstatement beginnen: In den letzten
Jahren ist immer wieder von der "Relativen
Autonomie der Migration" die Rede gewesen.
Danach lebten die Menschen in der Peripherie
unter mehrheitlich katastrophalen
Bedingungen; dennoch entschieden sich täglich
unzählige von ihnen zur Flucht bzw. Migration;
sie zielten darauf ab, ihr Leben stärker gemäß
ihrer eigenen Hoffnungen und Wünsche zu
gestalten. Diese Betonung des aktiven bzw.
aneignendes Handelns wird gemeinhin als
notwendige Reaktion auf die in linken und
antirassistischen Zusammenhängen
vorherrschende Tendenz gerechtfertigt, die
Macht ökonomischer und anderer
Herrschaftsverhältnisse zu stark in den
Vordergrund zu stellen - zu Ungunsten all der
(kleinen) Erfolge, die Menschen permanent in
ihren alltäglichen Kämpfen erringen würden. In
diesem Sinne könnten Flüchtlinge und
MigrantInnen auch als Pioniere einer
"Globalisierung von unten" bezeichnet werden:
Sie entwickelten transnationale Netzwerke und
kämpften für ihre eigenen Interessen, ohne sich
von nationalstaatlichen Grenzen oder anderen
Maßnahmen moderner Migrationspolitik
abschrecken zu lassen. Wie steht ihr zu solchen
Überlegungen?
Sunny Omwenyeke: Ich finde die ganze Debatte
etwas daneben. Sei es aus Naivität, Ignoranz
oder welchen Gründen auch immer, wir laufen
Gefahr, die Ursachen zu verkennen, weshalb
Menschen ihre Länder verlassen. Die Linke in
Europa sollte wirklich mal über ihren Tellerrand
hinausschauen und zur Kenntnis nehmen, was im
Leben der Menschen, die in der so genannten
Dritten Welt leben, tatsächlich passiert. Ob
Flüchtlinge oder MigrantInnen, sie fliehen vor
den gesellschaftlichen Bedingungen in ihren
Ländern: vor der Zerstörung ihrer ökonomischen
Existenzgrundlagen, den politischen
Verwerfungen, der Brutalität und Gewalt. Es
greift zu kurz, nur von dem Wunsch zu sprechen, das
eigene Leben zu verbessern. Außerdem ist es
absolut absurd, die Tatsache der massenhaften
irregulären Grenzüberschreitungen zu einer
"Globalisierung von unten" aufzubauschen. In
dieser Analyse ist die Negativität der
Globalisierung, ihr zerstörerischer Einfluss
auf das Leben der Menschen komplett verloren
gegangen.
Gregor Samsa: Moment, der Begriff der
"Globalisierung von unten" ist weniger
analytisch denn subversiv zu verstehen. Durch
positive Bezugnahme auf Flucht- und
Migrationsbewegungen soll ein anderes, ein
emanzipatorisches Verständnis von
Globalisierung politisch stark gemacht werden.
Sunny Omwenyeke: Nein, es ist völlig
unakzeptabel, die Dinge so zu beschreiben. Eine
solche Bewegung von unten existiert nicht. Es
gibt diese angeblich ach so schlagkräftigen
Netzwerke überhaupt nicht. Was es gibt, ist ein
oftmals unbeschreibliches Elend, gerade im
Zuge von Flucht und Migration.
Martina Pech: Einspruch: Die Netzwerke
existieren. Ihr alle habt es nach Europa
geschafft. Es gibt unzählige Menschen aus
Afrika, die haben nicht eine Nacht in einem
Asylheim geschlafen, die organisieren ihr
Überleben mit Hilfe von Community-Netzwerken.
Im letzten Sommer habe ich zwei Afrikaner auf
einem Markt in Warschau getroffen. Sie sind aus
Deutschland nach Polen abgeschoben worden. Jetzt
verdienen sie ihr Geld mit dem Verkauf
gefälschter Markenturnschuhe.
Sunny Omwenyeke: Ja, aber das ist nichts, was die
Rede einer "Globalisierung von unten"
rechtfertigen könnte. Solche Begriffe müssen
sich auf organisierten Widerstand beziehen,
auf Menschen, die in politischen Kämpfen
stecken.
Ade Alabi: Klar, wir müssen auch die kleinen
Erfolge sehen, die gibt es, wie z.B. globale
Vernetzungen durch Indymedia. Aber wir sollten
sie nicht verklären, denn wir sind nur wenige und
haben es mit ausgesprochen mächtigen
gesellschaftlichen Systemen zu tun.
Gregor Samsa: Ich finde, ihr argumentiert etwas
zu objektivistisch. Ihr betont sehr stark die
gesellschaftlichen Strukturen, unterschlagt
aber die praktischen Versuche der Menschen,
diesen Strukturen etwas entgegenzusetzen. Die
Subjekte mit ihren konkreten Subjektivitäten
und ihren autonomen Entscheidungsspielräumen
kommen bei euch ein bisschen kurz.
Ade Alabi: Ob als Flüchtling oder MigrantIn, wir
verlassen unsere Heimat nur, wenn es gar nicht
anders mehr geht. Ich glaube, die meisten von uns
sind emotional sehr stark mit ihrer Heimat, ihren
Familien und ihren Wurzeln verbunden. Wir denken
sehr oft zurück, deshalb ist die Entscheidung zu
gehen, eine sehr schwere Entscheidung.
Sunny Omwenyeke: Natürlich sind MigrantInnen
und Flüchtlinge Subjekte, die eigenständige
Entscheidungen treffen können. Das steht doch
außer Frage! Die Frage ist vielmehr, ob Menschen
das Risiko von Flucht oder Migration tatsächlich
auf sich nehmen würden, wenn sie nicht unter
absolut erbärmlichen und brutalen
Bedingungen leben müssten. Ich finde es deshalb
auch oberflächlich, die ökonomischen
Mini-Erfolge von MigrantInnen oder
Flüchtlingen als Argument dafür anzuführen,
dass diese im positiven Sinne etwas erreicht
hätten.
Gregor Samsa: Für dich als linken und politisch
organisierten Aktivisten mag das
oberflächlich sein. Für unzählige Menschen sind
das aber ganz reale Erfolge. Es ist ihr Weg, einen
Umgang mit den gesellschaftlichen Bedingungen
zu finden, von denen du sprichst. Viele Familien
schicken ein oder zwei Familienmitglieder in die
Ferne, damit diese Geld dazu verdienen können.
Geld, das zu Hause für kleine Investitionen, als
Rücklage im Notfall oder einfach nur für den
täglichen Bedarf gebraucht wird.
Martina Pech: Ich möchte das erweitern: Ich habe
in New York viele Menschen getroffen, auch aus
afrikanischen Ländern, die schlicht angezogen
waren von bestimmten kulturellen Werten bzw.
ökonomischen Möglichkeiten in den USA.
Ähnliche Beschreibungen habe ich auch bei dem
Nigerianischen Schriftsteller Ben Okri
gefunden. Manches davon mögen unrealistische
Erwartungen sein, dennoch frage ich mich, ob
diese kulturellen und materiellen Wünsche
nicht auch von der Linken ernst genommen werden
müssen.
Sunny Omwenyeke: Wenn du schaust, warum die
Leute ihr Land verlassen haben und was ihre
Hoffnungen gewesen sind, und das mit dem
vergleichst, was sie tatsächlich erreicht haben,
dann passt das in aller Regel nicht zusammen. Die
Sache mit den Rücküberweisungen sollte nicht die
Sicht auf die wirklichen Ursachen verstellen.
Ade Alabi: Es ist nur eine Minderheit, die Geld
nach Hause schicken kann, solche Motive sind
nicht der Hauptgrund für Flucht und Migration.
Überspitzt könnte mensch stattdessen sagen, die
Menschen sind die Objekte, während die
endemischen Probleme in unseren Ländern die
eigentlichen Subjekte sind. Die Probleme
müssen deshalb bei der Wurzel angepackt werden.
Zu diesen Problemen gehört auch, dass die reichen
Industrieländer damit fortfahren, unsere
Länder auszuplündern.
Martina Pech: Ich verstehe euer Beharren
darauf, dass die eigentlichen Ursachen nicht aus
dem Blickfeld geraten dürfen. Aber ich sehe auch
die Gefahr, dass eure Kritik an der Rede von der
"Relativen Autonomie der Migration" bzw. der
"Globalisierung von unten" einfach nur ins
Gegenteil kippt. In meinen Augen ist es ein
wichtiger Schritt, sich nicht nur auf die
Opfer-Perspektive zu konzentrieren, sondern
auch die subjektiven Aneignungsprozesse stark
zu machen. Hierin steckt durchaus subversives
und emanzipatorisches Potenzial.
Sunny Omwenyeke: Für mich ist es Ausdruck der
Lausigkeit der europäischen Linken, das Leben
von MigrantInnen und Flüchtlingen derart zu
romantisieren. Für die meisten von uns sind
Flucht und Migration schlicht Horror!
Gregor Samsa: Könnte eine Auflösung des Knotens
darin bestehen, das Konzept von der "Autonomie
der Migration" etwas stärker nach den
jeweiligen Herkunftsländern und somit auch den
jeweils unterschiedlichen Migrationsumständen
zu differenzieren, etwa nach Osteuropa,
Südeuropa, Subsahara-Afrika etc.?
Ade Alabi: Vielleicht. Gerade privilegierte
MigrantInnen der zweiten und dritten
Generation übersehen häufig die Probleme von
Flüchtlingen und MigrantInnen aus der so
genannten Dritten Welt.
Martina Pech: Wir sollten zum zweiten Thema
kommen, und wir möchten auch diese Runde mit
einem Auftaktstatement eröffnen: Eng verknüpft
mit dem Konzept der "Relativen Autonomie der
Migration" ist die Forderung nach einer
Perspektiverweiterung linker,
antirassistischer Politik. Danach sollten
nicht mehr nur Lager, Abschiebungen etc. bekämpft
werden, sondern auch die rassistisch
strukturierten Lohnarbeitsbedingungen von
(papierlosen) MigrantInnen und Flüchtlingen.
Denn so sehr Lager und Abschiebungen das
dramatischste Beispiel der radikalen
Verweigerung des Rechtes auf Rechte darstellen
würden, letztlich verkörperten sie nichts
anderes als einen Trend, der im Zuge von
Deregulierung und Prekarisierung immer mehr
Menschen weltweit betreffe. Wie positioniert
ihr euch zu dieser Forderung?
Sunny Omwenyeke: Klar, Antirassismus sollte
sich nicht nur auf Lager und Abschiebungen
beschränken. Umgekehrt frage ich mich, wo sind
die Unterstützungsstrukturen, auf deren
Grundlage mit den und für die papierlosen
ArbeiterInnen gekämpft werden könnte. Die
Illegalisierten selbst können auf Grund der
repressiven Struktur kaum offen kämpfen, sie
sind permanent von Abschiebung bedroht. Die
Linke ist nicht in der Lage, diejenigen zu
schützen, die ihre Gesichter zeigen möchten. Das
ist ein grundlegender Unterschied z.B. zu
Frankreich.
Gregor Samsa: Aber wer ist die Linke? Auch die
Karawane gehört zur Linken, sie hat es ebenfalls
bislang nicht geschafft, entsprechende
Unterstützungsstrukturen mit aufzubauen!
Sunny Omwenyeke: Ja, ich will mich gar nicht vor
dieser Selbstkritik drücken. Ich will lediglich,
dass wir unsere Schwäche zur Kenntnis nehmen. In
der aktuellen Situation ist es noch
schwieriger mit und für Papierlose zu kämpfen als
mit und für Flüchtlinge. Mensch kann nicht für
andere kämpfen. Die Illegalisierten müssen
selber beteiligt sein, aber im Moment fehlt der
Rahmen, damit dies ernsthaft realisiert werden
könnte.
Ade Alabi: Was die Erweiterung der
antirassistischen Agenda betrifft, sehe ich ein
Problem: Die linke Szene hat sich in den letzten
Jahren so oft gespalten. Viele Gruppen sind
stärker mit ihren Theorien beschäftigt, als sich
praktisch an konkreten Kämpfen zu beteiligen.
Gregor Samsa: Heißt das, dass ihr Euch für eine
intensivierte Zusammenarbeit mit kanak attak,
respect und all den anderen Gruppen aussprecht,
die sich derzeit darum bemühen, insbesondere
im Feld rassistischer Lohnarbeit
Widerstandsstrukturen aufzubauen?
Sunny Omwenyeke: Zum einen möchte ich noch mal
ausdrücklich betonen, dass es entgegen anders
lautenden Gerüchten von unserer Seite aus keine
Konkurrenz zwischen der Karawane, The Voice und
kanak attak gibt. Ich wüsste nicht, worum wir
konkurrieren sollten. Grabenkämpfe sind für uns
kein adäquater Weg in der politischen Arbeit. Wir
sind grundsätzlich bereit, mit jeder Gruppe
zusammenzuarbeiten. Andererseits sollten
alle wissen, dass für uns der Anti-Abschiebekampf
derart zentral ist, dass wir ihn nicht durch
irgendetwas anderes ersetzen können. Die
Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler
papierloser und anderer Menschen mögen schlimm
sein, allein, Abschiebungen sind nicht minder
schlimm!
Martina Pech: Ihr sagt zwar, ihr seid offen, wollt
euch aber umgekehrt nicht auf eine
nicht-hierarchische Agenda einlassen. Stimmt
das?
Ade Alabi: Nein! Es ist natürlich richtig, für
eine generelle Arbeitserlaubnis etc. zu
kämpfen. Aber für uns ist der Kampf um das Recht auf
Aufenthalt prioritär ...
Sunny Omwenyeke: ... welche Bedeutung hat für
Flüchtlinge die Frage des Wählens oder der
doppelten Staatsbürgerschaft? Wir sind mit ganz
anderen Problemen konfrontiert, mit einer ganz
eigenen Form von Prekarisierung. Für viele
MigrantInnen der zweiten oder dritten
Generation stehen andere Problem an als für
uns. An dieser Stelle müssen wir komplementär
und dennoch solidarisch arbeiten.